Kopaonik 2017 – OL in Serbien
OL in Serbien. Verblüffenderweise war das Land von meiner inneren Reiselandkarte verschwunden. Der Entschluss, zu fahren, war schnell gefasst. Der Kontakt war einfach herzustellen und der Informationsrücklauf war erfreulich freundlich und vollständig.
Belgrad ist eine Stadt im Wandel. Nach einer Zeit der Stagnation infolge des Zerfalls Jugoslawiens, des Krieges und der folgenden Isolation werden große Pläne verfolgt – so soll in den nächsten Jahren die Belgrad Waterfront entstehen – ein komplett neuer Stadtteil mit Büro- und Wohngebäuden an der Sava, von dem derzeit einen Hotelbaustelle und weite Abbruchflächen zeugen. Derzeit werden die historischen Verbindungsstraßen zur Festung grundsaniert, um diesen Bereich an die touristisch attraktiven Gebiete und Einkaufsstraßen anzubinden.
Das Alltagsleben in Belgrad unterscheidet sich wenig von dem anderer europäischer Großstädte, ist allerdings noch nicht so uniformiert durch die allseits bekannten Marken, welche derzeit nur die Fußgängerzonen im Zentrum dominieren. Jenseits dessen laden die breiten und schmalen Straßen der umliegenden Viertel zu weiten Spaziergängen ein. Die bekanntesten Sehenswürdigkeiten lassen sich in Schleifen von 2-3 Stunden erlaufen. Es ist dabei ein großes Vergnügen, die Menschen und die Vielzahl verschiedener Geschäfte & Werkstätten zu beobachten, dann in eines der unzähligen Cafés einzukehren, dort eines der leckeren Kleinteilchen und bei 39°C einen geeisten Milchkaffee zu genießen und sich wieder ins Gewimmel zu stürzen – so z.B. auf einer Runde über die St. Marks Church zum großen Gemüsemarkt Kalenićpijaca und zurück durch die Njegoševa im wohlhabenden Stadtteil Vračar. Dort am Cvetni Trg nicht verpassen: den Gastraum des Café Kesele Domake in der 1. Etage. Die Stadtteile zeugen von unterschiedlichem sozialen Status, jedoch ist die Stadt durchweg sauber und sicher. Auch in abgelegenen Parks und abends in Nebenstraßen hatte ich zu keinem Zeitpunkt ein ungutes Gefühl.
Serbien musste seine Identität seit 1990 neu definieren und ist immer noch damit beschäftigt. Betont werden die Tradition des Königreiches mit engen Verbindungen zur russischen Monarchie – so findet sich überraschenderweise ein gut gepflegtes Denkmal für Nikolaus II., den letzten russischen Zaren, der nach der Oktoberrevolution erschossen wurde. Und auch die Wörterbücher zur Trennung der serbo-kroatischen Sprache sind noch im Fluss.
Zur aktuellen politischen Entwicklung gehört die aktiv gepflegte Erinnerung an die Bombardierungen der NATO, die im Süden viel Schwerindustrie, darunter die Zastava-Automobilwerke in Kraguvez, zerstört haben. Im Weichbild Belgrads fallen heute noch die Ruinen zerbombter Regierungsgebäude auf. Die Nato-Angriffe werden oft verknüpft mit den Toten durch Kämpfe und Terror seitens der Tschetniks – das Kosovo ist eine offene Wunde und wird – wie auch von der UNO – als Teil Serbiens betrachtet. Über die Tschetniks ist schnell eine ideologische Brücke zur deutschen Besetzung im zweiten Weltkrieg geschlagen und der damals verübten Gräueltaten. Die Deutschen ließen 1941 für jeden getöteten deutschen Soldaten 50-100 Zivilpersonen hinrichten, die Opfer gingen in die Tausende. Als Gast wurde ich damit jedoch nicht konfrontiert, sondern durchweg freundlich behandelt.
Die Reise nach Kopaonik war unkompliziert: Das Busticket kaufen und für 15 € über ca. 300 km in 5 Stunden zuerst über die Autobahn bis kurz vor Kragojevac und dann über Land nach Kraljevo und dem Ibartal folgend an den Fuß des Kopaonik. Es verwundert nicht, dass man an der Passstraße auf eine Feldstellung der serbischen Armee stößt. Die Talseite weist zum Kosovo und das Kopaonik-Gebirge ist diesem zur Hälfte zugehörig.
Was dann folgte, war spektakulär: Auf einer Fahrstrecke von ca. 15 km überwindet die Straße 1.400 Höhenmeter und verlangt dem Bus mehrfach die untersten Gänge ab. Die Temperatur sank von knapp 40°C auf angenehme 25°C auf 1.766 Meter Höhe im Wintersportort Kopaonik. Ein angenehm in die Jahre gekommener Ort, der im Sommer von Bau- und Renovierungstätigkeiten geprägt ist. Auch hier ist deutlich zu merken, dass Serbien die Stagnation hinter sich lässt. Große Baugruben und pausenlose Betonarbeiten lassen darauf schließen, dass die Kapazität auf modernstem Standard erweitert wird. Der Bestand wird parallel dazu saniert, einmalig waren dabei der Gerüstbau und die Dacharbeiten – beschirmt vom serbischen Adler.
Das Skigebiet wäre trotzdem nichts für mich – auf das Dutzend Lifte kommt nur eine Loipe. Der Berg Panič ist mit 2.016 m die höchste Erhebung und bietet wunderbare Blicke nach Serbien, ins Ibartal und das Kosovo.
Auf den Gipfel führen mehrere Lifte, deren einer auch für einen Wettkampf wichtig wurde. Aber auch dort holt einen der Krieg ein. Neben einer überwiegend zerstörten Radarstation findet sich ein Denkmal für zwei Soldaten, die noch 2012 beim Räumen von Blindgängern aus Kassettenbomben der NATO umkamen.
Die Schönheit der Wälder hat sich mir im ersten Training nur spotartig erschlossen. Das ist wörtlich zu verstehen: Da ich spät dran war, bin ich dieses als Nacht-OL gelaufen und habe das sehr genossen. Der Nadelwald ist gespickt mit kleinen grasbewachsenen Lichtungen und kurzen offenen Wiesenkanälen, durchzogen von Bächen mit sumpfartigen Erweiterungen auch im Hang. Das Höhenprofil ist sehr fein strukturiert und wurde phantastisch kartiert. Wege? Nicht vorhanden oder so verwachsen, dass nicht sicher erkennbar. Der teils dichte sommerliche Unterbewuchs verdeckte gefallene Bäume, Steine und Sumpflöcher zuverlässig. Der durchbrechende Fels und große, teils stehende Steine rundeten die nächtliche Märchenlandschaft ab. An all dem sollte ich mich in den nächsten Tagen noch satt sehen können.
Verblüffend kurz erschienen zuerst die Bahnlängen im Wettkampf – waren jedoch im komplexen, urwüchsigen und steilen Gelände gut kalkuliert und die Läufe wurden so ein Genuss.
Der Lang-OL am 1. Tag setzte den Maßstab. Nachdem ich durch meine typische Konzentrationsschwäche am ersten Tag wieder einmal den ersten Posten überlaufen hatte, konnte ich mich erst nach und nach in das Gelände einfühlen. Und wiederum bestätigte sich: Wege können falsche Freunde sein. Auf dem Weg zum 5. Posten tat ich das nicht, was wir allen Kindern immer wieder erklären: Kontrolliere nach einer Kreuzung die Kompassrichtung. Habe ich natürlich nicht gemacht. Und auf der einzigen (!) großen Kreuzung der Karte den falschen Weg genommen. Die nachfolgende Unsicherheit führte mich in einen wunderbar strukturierten Hang, aber eben nicht zu meinem Posten. Drei Mädels haben mir dann gezeigt, dass ich neben meinem Posten 9 ausgetrudelt war. Von der 9 zur 5 war es nicht weit und danach lief es wie am Schnürchen. Ein schlechtes Gewissen hatte ich wegen des Fragens nicht – kurze Zeit später konnte ich einem Eliteläufer das Loch zeigen, von dem aus er sich wieder einfinden konnte. Die Krone des Tages gebührte allerdings David aus Neukaledonien, den ich auf meinem erneuten Weg zur 9 mitnahm, damit er erstmal weiter zur 5 konnte – seine Suche hat ihn ca. 35 min gekostet, ich selbst hatte 12 min mitbekommen. Am Ende des Tages hatten alle Herren der H50 im gleichen Abschnitt ihre Lektion erhalten und es reichte für mich zum 2. Platz mit 78 s Rückstand auf Ziv aus Israel.
Am 2. Tag hatte ich beim Mittel-OL in teils bekanntem Gelände einen flow. Der Lauf war fehlerfrei und wurde mit 15 min Vorsprung belohnt.
Der 3. Tag brachte eine kurze Wertung. Hut ab – die 1,7 km waren ein echter Sprint. Der Maßstab von 1:2.000 verleitete viele Läufer dazu, über die Standorte hinauszuschießen. Zu meiner großen Freude hatte der Bahnleger das kleinstrukturierte Gebiet am rechten Kartenrand mit seinen kleinen Gebäuden, Treppen, Mauern und 2 Ebenen voll ausgenutzt und 6 Posten gesetzt. Obwohl ich dort die schnelle Umlaufung am Ende übersehen habe, brachte mir der Lauf eine weitere Minute Vorsprung.
So konnte ich mich gelassen auf den down-hill-Lauf vom Panič vorbereiten, der am Nachmittag in separater Wertung gelaufen wurde. Der Raschka-Cup ist eigentlich eine Mix-Staffel up & down hill als 45 min Score-OL. Einzelläufer durften die Richtung wählen: up 30 min oder down 15 min. Da sagte ich mir: Nimm für die ersten 30 min die Seilbahn, genieß die Aussicht und konzentriere Dich in den zweiten 15 min auf die Orientierung. Die Rechnung ging auf. Obwohl ich im oberen Bereich große Schwierigkeiten hatte, das Gelände zur Karte zu verstehen, war meine Planung richtig und der Grünfehler im oberen Bereich wurde für 45 s Verspätung mit nur wenig Abzug bestraft.
Der Samstag bescherte den 4. Wertungslauf in einem neu kartierten Gelände auf 1:7.500. Die hohe Detaildichte der Karte in Verbindung mit den vergrößerten Objekten und Linienbreiten irritierte mich am Anfang, aber verlor in der kleinräumigen, objektfokusierten Orientierung schnell an Bedeutung. Erst leichte Konzentrationsschwächen im letzten Drittel führten dazu, dass ich in diesem Lauf 1:30 min auf Ziv Norman einbüßte.
Für den 5. und damit letzten Tag war es mein Minimalziel fehlerarm durchzulaufen, da der Vorsprung groß genug war. Aber – für einen echten Sieg sollte nicht Zivs großer Einzelfehler im zweiten Lauf herhalten. Wie an drei anderen Tagen hatte ich ihm im Starterfeld direkt auf den Hacken: 3 min. Die hatte er am ersten Posten gut gemacht, da ich eine kleine Schleife gedreht hatte. Zum Glück kam er 10 s, nachdem ich mich vom verdeckten Posten gelöst hatte und konnte aufgrund meiner gleichen Laufrichtung nicht erkennen, ob ich suchte oder weiterwollte. Also ließ ich ihn vorbei, er bog praktisch auf meine alte Spur ein und ich konnte mich getrost in Richtung 2 aufmachen. Ab dem Moment rollte es. Obwohl die Bahnanlage auf gleicher Karte – diesmal in 1:10.000 – der des Vortages ähnlich war, reichten teils nur 100 m Versatz aus, um neue Aufgaben zu stellen. Nur in einer Hangpassage und an einem Kahlschlag ergaben sich aus der Geländekenntnis Vorteile für die Planung. Der sichere Lauf von 1-7 motivierte mich so, dass ich vom 11. Posten die Route quer über die Karte wählte, da ich einfach keine Lust hatte, zur Straße am Kartenrand aufzusteigen und diese bis in die Nähe der 11 zu traben.
Der Lohn war nochmals der volle Genuss aller am Anfang beschriebenen Geländemerkmale, ergänzt um eines:
ein 30 m langer gefallener Baum, der eine verwüstete und verkrautete Rinne hangaufwärts überspannte. So eine tolle Leiter hatte ich noch bei keinem OL!
Mit den weiteren 9 min Vorsprung konnte ich mein Ziel erfüllen. Mehr noch war ich jedoch glücklich, in dem Gelände zwei Läufe mit vollem Kartenkontakt und –verständnis erlebt zu haben.
Respekt vor den Kartierern und dem Bahnleger. Bedanken möchte ich mich für die freundliche Kameradschaft der kleinen H50er Gruppe, in der Raiko aus Belgrad und David aus Neukaledonien herausstachen. Raiko titulierte sich stets als Stari Mewed – der alte Bär – und mich als Malenki Speedy Vuc – der kleine schnelle Wolf – viel mehr Worte, als uns unserer Freundschaft zu versichern, hatten wir nicht: Ich spreche keine Serbisch – er kein Englisch. David und Stefanie aus Neukaledonien amüsierten sich köstlich über ihren neuen Nachbarn (ich starte auf o-online für Tuvalu) und waren mir liebe Begleiter. Hope to see you again on the other side of the world!
Last but not least gilt es, vor Tatjana den Hut zu ziehen. Als Gesamtleiterin hatte sie ihren Laden, ihre Leute und die Läufer jederzeit in einer freundlichen und resoluten Art im Griff. Probleme – gab es nicht, sondern immer eine Lösung. So hat es mich auch nicht weiter beunruhigt, als sich am Sonntag um 16:00 Uhr herausstellte, dass der Bus nach Belgrad ausgebucht war. Zwar waren da alle Läufer aus dieser Richtung bereits weg, aber nach einer Stunde hatte ich wieder ein Quartier und konnte so die Geschichte bis hierher bei einem guten Jelen-Pivo aufschreiben. Prost auf den Hirsch (Jelen)!
Siegerehrung: Zuerst die Macht – dann die Kinder – dann die Läufer.
Neuer Tag, neues Glück – Montag um 08:30 geht der Bus aus dem Gebirge. Der Kleinbus bretterte 1 Stunde durch das Hinterland über schmale Straßen und durch kleine Orte, die Temperatur stieg von oben 14°C auf 25°C an der Kreuzung zum Umsteigen. Der Bus nach Belgrad war voll besetzt, aber hier wurden Stehplätze geduldet und eine Stunde später hatte auch ich einen Sitzplatz.
Belgrad in der zweiten Runde war bereits ein wenig vertraut und ich habe mein Programm umgestellt: Morgens eine Runde gedreht, über Mittag in der Hitze geruht und am späten Nachmittag wieder los. Die Tour nach Zemun war die richtige Idee:
Zemun liegt donauaufwärts und spiegelt die neuere Stadtgeschichte und die Gewohnheiten der Belgrader sehr schön wieder. Ein historischer Stadtkern lädt zum Bummeln, Essen & Trinken ein. Abends füllt sich die Promenade mit Menschen, es werden gedünstete Maiskolben, Gebratenes und aller Schnickschnack dieser Welt verkauft. Auf dem Weg Richtung Belgrad zurück am Donauufer gibt es einen kleinen Vergnügungspark und mit einer Pontonbrücke angebunden das Freibad Lido auf einer Strominsel.
Der Übergang zu Neu-Belgrad ist geprägt durch ausgedehnte Hochhausgebiete, die den stadtnahen Wohnraum bilden.
Zemun Dschungel
Mit Einbruch der Dunkelheit öffnen die Clubs auf Schiffen im Donauarm und 5 km weiter leuchtet das nächtliche Zentrum.
Belgrad ist wahrhaftig eine Blume, die bei Nacht erblüht – erst weit nach Mitternacht ebbt das Treiben in den Straßen ab.
Bis dahin bieten die entspannten und eleganten Flaneure in Verbindung mit den vielen Straßencafés eine angenehme Kulisse zum Bummeln.
Zusammenfassend kann ich die Reise nach Serbien und den Kopaonik-OL uneingeschränkt empfehlen.
Die Ausrichter bieten nach dem 5-Tage-Lauf ein mehrtägiges O-Camp mit Trainingsaufgaben an.
Wer daran kein Interesse hat, findet im Grenzgebiet zum Kosovo eine Kulturlandschaft, die von den historischen Übergängen zwischen dem osmanischen Reich und den christlich geprägten Staaten sowie den Bevölkerungsverschiebungen des 18.-19. Jahrhundert und der heutigen Zeit geprägt ist.
Geschrieben von Tobias Wolf